Chinareisen


Abenteuer China

Wudang - Ein heiliger Berg in China, 1991

FÜNF UNENTWEGTE der Wu-Shu-Akademie, planten wir im Anschluß an unsere Trainingsreise 1991 mitten im Winter etwas Großes. Wir wagten eine kleine Expedition auf den Wudang-Shan, den heiligen Berg der Taoisten und sagenhaften Ursprungsort der "Inneren Kampfkünste". Am 7. Januar um 9.15 Uhr morgens stiegen wir in Wuhan in den Zug Nr. T 327, weiche Klasse, Schlafwagen. Bei Außentemperaturen unter Null brachte es der ungeheizte Zug im Abteil immerhin auf 10 Grad plus, statt Heizung hatte die Eisenbahnverwaltung ein Thermometer an der Wand spendiert. Wir hüllten uns in Decken, tranken Tee und Kaffee. Den ganzen Tag zockelte der Zug durch das weite Flachland zwischen Gelbem Fluß und Yangtze. Durch kleinste Ritzen an den Fenstern drang Ruß. China ist das einzige Land, das noch Dampfloks herstellt, und was für schöne.

DRAUSSEN STAUBIGE Dörfer, Schweine, Rinder, Wasserbüffel. Die Menschen hier sehen anders aus als ihre Verwandten in Nord- und Südchina, klein, mit runden, rötlichen Gesichtern, sie wirken im Winter alle pummelig durch die vielen Schichten Kleidung, mit denen sie sich gegen die Kälte schützen. Ihr Seelenleben können wir uns so schwer vorstellen wie sie sich das unsere, da helfen keine akademischen Studien. Am Nachmittag durchfahren wir Xiangfan, eine graue Industriestadt, deren niedriges Lohnniveau ausländische Investoren angelockt hat. Hier werden unter anderem modische Textilien mit wohlklingenden Markenbezeichnungen für deutsche Handelsketten hergestellt.

ABENDS ANKUNFT am Fuße des Wudang-Gebirges. Ein kleines Hotel nahm uns für die Nacht auf. Der Feuertopf zum Abendessen machte uns endlich warm.

DER TAGESANBRUCH ließ uns hinter leichtem Dunst die eigenartige
Schönheit des Wudang erahnen. Berggipfel - insgesamt 72 -, Schluchten, Höhlen, Klippen, Wasserfälle bilden eine Landschaft, deren Essenz wir von chinesischen Landschaftsmalereien zu kennen glauben. In diesem Bergmassiv ist eine seltene Harmonie zwischen Natur und menschlicher Kunst gelungen: Dutzende von Tempeln, Pavillions, Brücken, Torbögen fügen sich in die Landschaft ein und bilden einen geistigen Bezirk, der Welten vom Alltag der untenliegenden Ebene entfernt scheint. Die Priesterinnen und Priester in den Klöstern machen jedoch, eine seltene Erfahrung im Fernen Osten, keinen abgehobenen und distanzierten Eindruck. Mit hellwachen Augen und großer Offenheit sprechen und fragen sie ohne Scheu.

SEIT ALTERSHER ist der Wudang der Berg der Taoisten. Ein mythischer Prinz namens Zhenwu, der als Gottheit verehrt wird, soll hier 42 Jahre lang gelebt haben. Der Ehrgeiz eines Ming-Kaisers, sich selbst als dessen Reinkarnation darzustellen, führte zu einer Bautätigkeit, die ähnlich maßlos wie die Errichtung der Großen Mauer war, aber auch in ästhetischem Sinne vergleichbar gelungen. 300 000 Arbeiter legten einen Weg aus breiten Steinstufen bis auf den obersten Gipfel, den "Pfeiler des Himmels", bauten Klöster und Anlagen.

HEUTE FÜHRT eine Bergstraße auf etwa halbe Höhe des Massivs. An ihrem Ende warten die Sportschuhverleiher auf schlechtausgerüstete Pilger. 70 Pfennig kostet ein Paar pro Tour. Wir stiegen in eigenen Stiefeln über die verschneiten und vereisten Stufen zum Gipfel mit der goldenen Statue des Prinzen Zhenwu. Ein unvergeßlicher Blick über die sich in der Ferne im Dunst auflösenden Bergketten war die Belohnung.

DER WUDANG ist der sagenhafte Ursprungsort des Tai Chi Chuan, der sanft-kraftvollen chinesischen Bewegungs- und Kampfkunst. Der Taoist Zhang Sanfeng soll es nach einer Legende im Traum vom Prinzen Zhenwu gelernt haben. Nach einer anderen Legende soll er den Kampf einer Schlange mit einem Kranich beobachtet und daraus die Prinzipien des weichen Kämpfens mit innerer Kraft abgeleitet haben. In dem Film "Die Tochter des Meisters" hat man versucht, den Künsten des Wudang ein kleines Denkmal zu setzen; viele der Drehorte erkannten wir wieder. Dennoch steht die Wudang-Schule im Schatten der bekannteren Shaolin-Schule, benannt nach dem buddhistischen Shaolin-Kloster, das die auf äußerer Körperarbeit beruhenden Künste favorisierte. Beide erheben übrigens zu Recht den Anspruch, Prinzipien der chinesischen Medizin zu integrieren. Ein
erklärtes Ziel beider Künste ist die Gesundheit der Praktizierenden.

IM "PALAST DER PURPURWOLKE" besuchten wir die taoistischen Priester. Herr Guo, 71, und sein Schüler, Herr Zhong, gaben uns eine Vorführung, an die sich ein langes offenes Gespräch anschloß. Ihre große Könnerschaft und ihr Fachwissen überzeugten uns davon, daß an dieser Quelle des Tai Chi Chuan, das sich ja mittlerweile in vielerlei Spielarten über die ganze Welt verbreitet hat, nach wie vor hohe Kunst praktiziert wird.

NACHDENKLICH und verfroren kehrten wir auf der Rückfahrt wieder in unserem kleinen Hotel ein. Bei Kerzenlicht setzten wir uns an den Tisch, da außer der Heizung nun auch der Strom abgeschaltet war. Man fragte uns, ob wir Feuertopf mit Hund, Lamm oder Schwein wünschten. Wir entschieden uns für Lamm.

M.R.